Licht- und Schattenspiel

Eine Kunsthistorikerin und ein Architekt im Gespräch
(in: BAUKULTUR 2_2015, S. 11-13)

Die rauschenden Feste sind vorbei, die Lobeshymnen verhallt: Als Marseille 2013 Kulturhauptstadt wurde, war das mit der Eröffnung einer ganzen Reihe von Kulturbauten verbunden, an erster Stelle dem Neubau des „Musée des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée", kurz MuCEM. Der gläserne Kubus ist an drei Seiten von Wasser umgeben. Ein ornamentales Netz aus anthrazitgrauem Ultrahochleistungsbeton umspannt die Ost- und Südseite. Der ursprünglich aus Algerien stammende, jetzt in der Region lebende Architekt Rudy Ricciotti wurde von allen Seiten beglückwünscht: Marseille gewann endlich die Bedeutung, die der Stadt als Tor zum Mittelmeer bis nach Nordafrika gebührt. Der Bau an der Südspitze des Alten Hafens markiert diese strategisch so wichtige Stelle, weist gleichermaßen ins Zentrum der Stadt wie ins offene Meer. Die bislang vernachlässigte Mole, die J4, und das alte Fort Saint-Jean wurden ins museale Konzept einbezogen und bestätigen gemeinsam die führende Rolle der Metropole für den gesamten Mittelmeerraum.

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Das „Musée des civilisations de l'Europe et de la Méditerranée" (MuCEM) in Marseille ist mit dem Museumspreis des Europarats 2015 ausgezeichnet worden (Foto: Herbert Meyer-Sternberg)

Die Kunsthistorikerin Dr. Ulrike Besch und der Architekt Prof. Herbert Meyer-Sternberg aus München haben gemeinsam das MuCEM besucht. Sie wollten wissen, ob es sich wirklich um eine solch lichte Architektur zwischen „Himmel und Wasser" handelt, um „un rêve méditerranéen", wie proklamiert. Kann man den vollmundigen Äußerungen Ricciottis von einer „femininen und zugleich muskulösen Architektur" und von dem „süßen und zugleich salzigen Geschmack eines macaron de sardine" folgen? Wie erlebten sie das Museum?

„Ich als Kunsthistorikerin bin begeistert und fühle mich in einer ganz besonderen Weise affiziert, weil ich zwischen dem Glaskubus und der vorgehängten Netzfassade wie der Bauarbeiter auf einem Gerüst dem Bau ganz nahe bin. Ich kann wie ein Besucher eines Museums das Kunstwerk Architektur auf einem Rundkurs über die Stockwerke von außen erleben, lustwandle oben angekommen auf der Terrasse, blicke durch das Betonnetz auf das Meer, ruhe mich aus auf Liegestühlen, sonne mich unter dem blauen Himmel, genieße Licht, Luft und Raum, ohne noch irgendein Exponat gesehen zu haben. Ich muss gestehen, die (wechselnden) Ausstellungen an sich sind für mich gar nicht so interessant. Das MuCEM selbst ist für mich das Exponat. Das Sujet des Exponats Architektur ist das Mittelmeer: Licht, Süden, Wasser."

„Ja gut, für mich als Architekt erfüllt der Bau auch mal zuerst perfekt seine herausragende städtebauliche Funktion. Sowohl von der Stadt aufs Meer blickend wie vom Meer in den Hafen kommend hat das MuCEM eine Schlüsselfunktion. Und ich finde, dieser Rolle wird es insbesondere auch im Dialog mit dem alten Fort sowohl als Körper mit seinem Volumen wie auch mit seiner Haut hervorragend gerecht. Der strenge Kubus neben der kräftig gerundeten Bastion, die dunkle Farbe und die feine Struktur des vorgehängten Gitterwerks neben dem massiven hellen Naturstein kontrastieren auf angenehm spannende Weise. Eine Schwächung des städtebaulichen Rahmens ergibt sich für mich aus der Nachbarschaft zur zeitgleich entstandenen „Villa Mediterranée", da die beiden Gebäude sich beziehungslos und einander fremd gegenüberstehen. Ein Aspekt erscheint mir jedoch problematisch, und das ist die Tageslichtsituation im Inneren des Museums. Wie wirkt sich das von außen höchst spannende Netzwerk innen aus? Hier trifft kein gleichmäßig gefiltertes Licht auf Exponate, sondern ein durch starke Hell-Dunkel-Kontraste unruhiges, das die Anforderungen einer gleichmäßigen Lichtführung in einem Museum keinesfalls erfüllt. Vielleicht reagieren die Exponate eines ethnologischen Museums nicht so empfindlich auf Belichtungsqualität wie Objekte der bildenden Kunst."

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Fußgängersteg zwischen MuCEM und altem Fort (Foto: Herbert Meyer-Sternberg)

„Ja, stimmt eigentlich. Vielleicht interessieren mich die Ausstellungen auch deshalb nicht so, weil die Lichtführung nicht überzeugt. Ich kann mich im Inneren nicht wirklich zurechtfinden, bin vom Licht draußen geblendet, habe auch – ehrlich gesagt – eine aufregendere Darstellung der Geschichte des Mittelmeers erwartet. Die Bauaufgabe war ja, ein Monument zu schaffen, das sich in eine museale Landschaft integriert. Es gibt das alte Fort, das restauriert wurde, den Garten, der die Häuser verbindet, weitere Annexbauten, die unterschiedlichsten musealen Zwecken dienen. Ich finde, der Ricciotti-Bau erfüllt dieses Ziel der Einpassung in ein kulturelles Areal ziemlich gut. Ich gehe gerne über den 130 m langen, pfeilartigen Brückenarm hoch über dem Wasser, der vom MuCEM zum alten Fort und zu schön angelegten Gärten führt. Hier spüre ich tatsächlich so etwas wie einen „süßen und salzigen Geschmack" vom Meer, wie Ricciotti das ausdrückt. Es mag auch so knacken im Mund, wie wenn man in ein Macaron beißt. Nicht umsonst hat das Kulturkomitee der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) das MuCEM in Marseille für den Museumspreis des Europarats 2015 ausgewählt."

„Nun, der Architekt ist bekannt für wortreiche, blumige Erläuterung seiner Arbeit, aber ich bin deiner Meinung, dass dieses Gebäude durch seine geschickte Verknüpfung mit dem alten Fort und der freien Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit eine Bereicherung des kulturellen Angebotes darstellt. Die Möglichkeit, die Rampen zwischen dem verglasten Museumsinneren und dem „Betonvorhang" frei begehen zu können, den gefilterten Ausblick auf Meer und Fort zu erleben, regen auf zwanglose Weise an, das Museum zu besuchen."

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Die ornamentale Netzstruktur der vorgehängten Fassade erzeugt ein lebhaftes Schattenspiel (Foto: Herbert Meyer-Sternberg)

„Der Beton ist überall präsent, schwarzgrau ist er nicht gerade ein Synonym für Licht, Sonne und Meer, schon eher mutet er wie ein Korallenriff an. Trotzdem hat er für mich etwas leichtes, pudriges. Ist das Material besonders? Übersetzt es die Vorgabe hier ideal?"

„Der hier verwendete Faserbeton ist eine spezielle Entwicklung, die sich durch erhöhte Druckfestigkeit auszeichnet und auch filigrane Konstruktionen wie die hier verwendeten Verschattungselemente ermöglicht. Die Farbigkeit ist abhängig von Zuschlagstoffen und kann variiert werden. So hat Ricciotti z. B. beim Musée Cocteau in Menton fast weißen Beton eingesetzt. Ich denke, dass er inzwischen viel Erfahrung mit diesem Material hat und es gekonnt zur plastischen Gestaltung von Stützen oder anderen Bauteilen einsetzt und sich so der leichte und, wie du es nennst, pudrige Eindruck erklärt."

„Kunsthistoriker interpretieren gerne. Wenn ich hier oben auf der Terrasse stehe, denke ich bei dem Gitterwerk an eine amorphe Arabeske, den Weg zum Orient. Ich stelle mir die Fenster einer gotischen Kathedrale wie der St. Chapelle in Paris vor, die auch die Wände auflösen. Ich erlebe den Blick aufs Meer als überirdisches Licht. Ist das zu viel für den Architekten?"

„Nein, überhaupt nicht. Ich interpretiere das Fassadengitter, das zwar nicht streng geometrisch, aber doch einer Gesetzmäßigkeit folgend gestaltet ist, als verbindende Geste der unterschiedlichen Kulturen rund um das Mittelmeer."

„Bei Nacht strahlt das Bauwerk wie ein Juwel in unterschiedlichen Farben. Wie steht der Architekt zu solch einer nächtlichen „Mutation"? Bereichernd oder verunklärend?"

„Die nächtliche Illumination ist in der Tat spektakulär. Ich bin aber nicht sicher, ob sie vielleicht nicht doch zu übertrieben und effekthascherisch ist. Eine normale weiße, nicht zu grelle Innenbeleuchtung könnte ebenso interessant wirken und ausreichend Aufmerksamkeit auf sich ziehen."

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