BAUKULTUR 6_2014: Editorial

Dr. Stephan A. Lütgert, Ehem. Geschäftsführer Deutsche Stiftung Kulturlandschaft
(in: BAUKULTUR 6_2014, S. 3)

Liebe Leserinnen und Leser,
verehrte Freunde der Baukultur,

„Das Platzgreifen der Ingenieurbauten im äußeren Bilde unserer Kultur vollzieht sich mit einer Hartnäckigkeit, gegen die es ein Ankämpfen nicht gibt. Sie entspringen aus einer so klaren Erkenntnis des Richtigen und sind zu einer so unabweisbaren Forderung der Zeit geworden, dass jeder ästhetische Einwand gegen sie versagen muss."

Diese bemerkenswerte Feststellung, welche die normative Kraft des Faktischen in Bezug auf das ästhetische Bewusstsein postuliert, formulierte Hermann Muthesius, der Mitbegründer des Deutschen Werkbunds, bereits im Jahre 1909. Im selben Jahr schuf Peter Behrens für die AEG in Berlin seine berühmte Turbinenhalle, die heute als „paradigmatischer Bau der modernen Industriearchitektur" (K. Wilhelm) gilt, weil ihr Entwerfer es verstand, die Gebäudegestalt aus ihrem „inneren Organismus" heraus zu entwickeln. Die rein sachlich-funktional begründete, zweckgebundene Form und der Verzicht auf „ornamentales Beiwerk" wurden fortan – ausgehend vom Fabrikbau, welcher der „offiziellen Baukunst" lange als unwichtig erschien – zur allgemeinen künstlerisch-architektonischen Richtschnur: „Daher zeigen die besten modernen Industriebauten ein klares, einfaches, nüchternes, fast hartes Bild und verzichten bewusst auf jede Schönung" (H. Poelzig, 1930).

So erstaunlich zeitgemäß und zutreffend uns diese Äußerungen im Kern doch immer noch erscheinen mögen, steht doch 100 Jahre später zu fragen, was „Industriebaukultur" heute über diese formalästhetischen Kriterien hinaus, unserem heutigen ganzheitlicheren Verständnis entsprechend, bedeutet. Wurden bei der Planung von Industriebauten bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts durchaus bereits soziale Erwägungen in Betracht gezogen – wie etwa die Schaffung menschenwürdigerer Arbeitsstätten –, so spielte zum Beispiel die Beeinträchtigung der Umwelt doch noch kaum eine Rolle.

Heute sind die formellen Anforderungen an die Planer speziell auf diesem Gebiet schon aufgrund einer Vielzahl rechtlicher Bestimmungen ungemein größer. Zu den bestehenden Umwelt- und Sicherheitsauflagen kommen ständig weitere hinzu. Darüber hinaus gewinnen Gesichtspunkte wie Nachhaltigkeit, Energieeffizienz, Klima- und Ressourcenschutz usw. erheblich an Bedeutung und verlangen innovative bauliche Lösungen gerade im industriellen bzw. gewerblichen Sektor.

Ungeachtet der Fortschritte auf diesem Gebiet lässt sich ein anhaltend hoher Flächenbedarf für Verkehrs-, Energie- und Gewerbeinfrastruktur gerade im Außenbereich konstatieren, deren landschaftsgerechte Einordnung (Stichwort: Windkraftanlagen) häufig zu wünschen übrig lässt und deren Ausbau die weitere Zersiedlung begünstigt. Auch in Zusammenhang mit der energetischen Ertüchtigung von historischen Bestandsbauten stellt sich vielfach die Frage, inwieweit diese an sich positive Entwicklung nicht zulasten der überkommenen kulturlandschaftlichen, ökologischen und denkmalpflegerischen Werte geht.

Ökonomische Zwänge, restriktive gesetzliche Bestimmungen und mangelndes besseres Wissen haben in der Nachkriegszeit dazu geführt, dass die gestalterische Qualität – anders als von den Architekten seinerzeit erhofft – gerade bei Industrie- und Gewerbeanlagen viel zu selten Berücksichtigung gefunden hat. Vor diesem Hintergrund erscheint es gerade in einer Zeit des beschleunigten gesellschaftlichen Wandels angebracht, sich auch wieder stärker der identitätsstiftenden kulturellen Grundlagen und Bedingungen zu vergewissern und eine mehr qualitätsorientierte, integrative und interdisziplinäre Planung im räumlichen Kontext zu befördern. Auch wenn im postindustriellen Zeitalter die Errichtung weitläufiger monumentaler Industriekomplexe hierzulande nur mehr die Ausnahme darstellen dürfte, bedarf es gerade auch in der Fläche wieder mehr Gestaltungskompetenz.

Ihr
Dr. Stephan A. Lütgert
Ehem. Geschäftsführer Deutsche Stiftung Kulturlandschaft

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