Estland und Deutschland
in: BAUKULTUR 5-2007 (S. 8-9)
Wir wollten wissen, welchen internationalen Stellenwert deutsche Architektur, Ingenieurwesen und Städtebau einnehmen. Hierfür entwickelten wir einen Katalog mit sieben Fragen zu Themen aus dem Bereich Baukultur, deren Beantwortung wir den Botschaftern der europäischen Länder in Berlin überließen. In der vorliegenden Ausgabe präsentieren wir die Stellungnahme des Botschafters der Republik Estland, S.E. Clyde Kull. Wir bedanken uns bei allen Botschafterinnen und Botschaftern, die sich bei der Beantwortung unseres Fragebogens beteiligt haben.
Das Interview führte Marion Uhrig-Lammersen.
Welchen Stellenwert messen Sie den Bereichen Architektur, Städtebau und Ingenieurwesen in Ihrem Land zu?
Einen sehr hohen Stellenwert. Die Fächer Architektur, Städtebau und Ingenieurwesen, die an diversen Universitäten und Hochschulen in Tallinn und Tartu studiert werden können, sind unter jungen estnischen Studenten sehr populär.
Schätzen Sie diese Bereiche in Ihrem Land auch als „Export-bzw. Importartikel” ein?
Die Esten gehören zu den sesshaftesten Völkern Europas – unsere Urahnen lebten bereits vor 10.000 Jahren auf dem Territorium des jetzigen Estlands. Also beginnt unsere Architekturgeschichte mit Konushütten, Bauernburgen und in der Welt einzigartigen, urigen Mehrzweck-Bauernhäusern (Estnisch: rehielamu), in denen sowohl gewohnt als auch Korn gedroschen wurde. Später kamen ausländische Meister, die die Bauweise beeinflussten und mehrere Architekturrichtungen mitbrachten. So stellen estnische Städte Musterbeispiele für multikulturelle Architekturgeschichte dar, wo man wunderschöne alte und neuere Bauwerke von deutschen, finnischen, russischen, estnischen und vielen anderen Architekten und Baumeistern bewundern kann. Unsere Hauptstadt Tallinn ist heute eine Symbiose aus Alt und Neu, wo unweit einer mittelalterlichen (deutschen) Altstadt eine entstehende City mit moderner Architektur in den Himmel ragt.
Welche Rolle spielen deutsche Partner dort für Sie?
Von den deutschen Adligen wurden vom 13. bis 20. Jahrhundert in Estland mehr als 2.000 Gutshöfe gebaut, bei denen bis heute die unterschiedlichsten Stile aus West- und Nord-Europa vertreten sind wie Barock, Klassizismus, Hansegotik, Tudorstil und sogar italienischer Palazzo-Stil. Die ehemalige deutschbaltische Kultur der Gutshöfe ist auch mit dem versunkenen Atlantis verglichen geworden – in einer Sturmflut der Revolutionen, Kriege und Reformen Anfang des 20. Jahrhunderts ist der einstige Glanz verloren gegangen. Heute werden die alten Gutshöfe – öfters auch in Kooperation mit den deutschen Meistern – wiederum sorgfältig renoviert.
Eine weitere Erfolgsgeschichte ist zum Beispiel der gemeinsame Wiederaufbau der mittelalterlichen Johannes-Kirche (Estnisch: Jaani kirik) in der estnischen Universitätsstadt Tartu (ehemals Dorpat).
Kann der Bereich Architektur als Brücke zwischen Ihrem Land und Deutschland gesehen werden?
Ja, auf jeden Fall. Die größten estnischen Städte stammen alle aus dem Mittelalter und sind von deutschen Baumeistern gebaut worden. Diese mittelalterliche Stadtstruktur kann man am besten in der estnischen Hauptstadt Tallinn sehen. Die Stadtmauer Tallinns war ursprünglich das größte und stärkste Schutzsystem in Nord-Europa. Glücklicherweise sind zwei Drittel der Stadtmauer, die Hälfte von den ehemaligen 46 Türmen und die spätgotischen Wohnhäuser erhalten geblieben, sodass Tallinns Altstadt in das Unesco-Weltkulturerbe aufgenommen worden ist.
Welcher Baustil ist für Ihr Land typisch?
Eigentlich mehrere. Unsere abwechslungsvolle Geschichte hat mehrere Spuren auf unsere Architektur hintergelassen. Aber Anfang des 20. Jahrhunderts, parallel zu der Entstehung der Republik Estland, sind die Esten selbst – sowohl Architekten als auch Auftraggeber – in unserer Architekturszene erschienen. Eine Stilrichtung bildete die Nationalromantik, aber in den 1920er Jahren sind die meisten Architekten, von denen viele in West–Europa, darunter auch in Deutschland studiert hatten, mit dem Funktionalismus mitgegangen. Es sind mehrere Villen als sogenannte „weiße Kisten“ mit Flachdach überall in Estland gebaut worden. Nach der Wende fanden viele führende estnische Architekten wiederum den Weg zum Neufunktionalismus. Die heutige Stadtarchitektur prägen moderne Hochhäuser aus Stahl und Glas.
Welches neuere Bauwerk ist aus Ihrer Sicht das bedeutendste Ihres Landes?
Das neue Kunstmuseum (KUMU) Estlands – ein sehr modernes Gebäude, dessen Architekt Pekka Vapavuori aus Finnland kommt.
Welches Gebäude in Deutschland beeindruckt Sie am meisten und warum?
Deutschland ist architektonisch so reich und vielfältig, dass es höchst unrecht wäre, nur ein Bauwerk hervorzuheben. Zum Beispiel werden die Bauten an der weltberühmten Romantikstraße – wie man weiß – von den Gästen weltweit aus Japan bis Jemen besucht. Was die zeitgenössische Architektur anbetrifft, ist natürlich Berlins Hauptbahnhof ein imposantes Meisterwerk. Ich warte auch mit Interesse darauf, wie die Baupläne der Elbphilharmonie in Hamburg umgesetzt werden.