BAUKULTUR 2_2016: Editorial

Reiner Nagel, Bundesstiftung Baukultur, Vorstandsvorsitzender
(in: BAUKULTUR 2_2016, S. 3)

Verehrte Leser und Freunde der BAUKULTUR,

die Pariser Klimakonferenz ist nicht nur ein diplomatisches Meisterstück, sondern auch ein echter Meilenstein für die Weltgemeinschaft: Erstmalig soll weltweit nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gehandelt werden, anstatt Wachstum und Nachfrage ungebremst zu folgen. Dieses großartige Ergebnis darf aber nicht zu einem Primat von Umweltgesetzen und Forschungslabors für den Bau der Stadt der Zukunft werden, denn Baukultur schließt das echte Leben mit ein, ist mehr als bloßes Zahlenwerk.

Gerade in Deutschland sind die Anforderungen an das Bauen bereits sehr hoch und durch die Energieeinsparverordnung 2016 weiter verschärft worden. Deutschland ist positives Beispiel und Vorreiter. Doch dem gegenüber steht ein fehlendes Wissen über die Handhabung neuer Techniken und die Langzeitfolgen vieler Maßnahmen. So sehe ich den großflächigen Einsatz von Fassadendämmung, insbesondere an baukulturell wertvollen Bestandsgebäuden, kritisch in punkto Lebensdauer, Materialverbrauch und -entsorgung, ebenso wie für die Bau- und Wohngesundheit. Schimmelbildung durch falsche Taupunkte bei neuen Fenstern, Wärmepumpen, die nur wenige Fachleute verstehen oder der Specht, der in der Dämmung wohnt: Das alles zeigt, dass wir eigentlich noch in einer Erprobungsphase sind und noch das Gleichgewicht zwischen Technik und Gestaltung, Einsparung und Komfort suchen. Dass auch beim Klimaschutz weniger oft mehr ist, wird dabei viel zu selten beherzigt.

Ganz konkret muss gefragt werden, welche Bauteile welchen Einspareffekt bieten. Statt vollflächigem Wärmedämmverbund sollte den tatsächlichen Schwachstellen, also z. B. den Heizungsanlagen, den Fenstern oder den Dächern – wo oft zugleich zusätzlich benötigter Wohnraum entstehen kann – mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch die Produktionsbedingungen eines Bauteils und die darin versammelte graue Energie spielen eine große Rolle. Wir wissen längst, dass sich Einsparung von CO2 aufgrund vielfacher Rebound-Effekte nicht mechanisch steuern lässt: Die Schweizer Idee der 2000-Watt-Gesellschaft ist daher näher an der Lebenswirklichkeit und am Bewusstsein der Menschen als ein hochtechnisiertes Haus, das sich nicht mehr von Hand und mit Augenmaß bedienen lässt. An unserem Stiftungssitz etwa konnte zwar auf eine Außendämmung vor der historischen Klinkerfassade verzichtet werden – stattdessen Innendämmung und Deckenheizung, Solarthermie und vieles mehr – doch im Ergebnis versagt das ausgeklügelte Klimakonzept und mit ihr die Techniker. 35 Grad im Winter in einigen Büros sind die Folge.

Wenn Räume und Gebäude mit Identifikationswert entstehen sollen, darf der Einfluss des Nutzers nicht verloren gehen. Ein öffenbares Fenster statt Lüftungsanlage, Fensterläden statt fehleranfälliger Steuerungstechnik, dauerhafte Materialien statt synthetischer Industrieerzeugnisse: Althergebrachte Bauweisen, die per se zumeist klimagerecht sind, dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Den größten Beitrag zum Klimaschutz sehe ich darin, Bestandsgebäude zu erhalten. Sanieren und Umnutzen sind immer klimafreundlicher als Abriss und Neubau. Dauerhaft akzeptierte, genutzte und gepflegte Gebäude und Stadträume sind die wichtigste Bedingung für Nachhaltigkeit.

Eine umfassende Klimabaukultur darf sich deshalb nicht nur auf das einzelne Gebäude beziehen, sondern muss ganze Stadt- und Landschaftsräume betrachten, sowohl was zukünftige Konzepte der Energieversorgung angeht als auch Anpassungsstrategien an den Klimawandel. Wir brauchen Konzepte, die Hochwasserschutz mit Aufenthaltsqualitäten verbinden, die mit hellen Materialien und viel Grün für kühlende und gut durchlüftete Stadträume sorgen und die neue Konzepte von Energiegewinnung, Mobilität und Stadttechnik als baukulturelle Gestaltungsaufgaben akzeptieren.

In Paris wurde eine historische Zielvereinbarung geschlossen. Bei deren Umsetzung muss Nachhaltigkeit auch die Aspekte Funktionalität, Emotionaliät und Ästhetik mit einbeziehen. Gestaltung ist wie so häufig der Weg zum Ziel.

Herzlichst Ihr
Reiner Nagel
Bundesstiftung Baukultur
Vorstandsvorsitzender

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