Stefan Wohlrab, 1. Vorsitzender AIV Aschersleben-Staßfurt
(in: BAUKULTUR 5_2016, S. 3)
Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Freunde der Baukultur,
kaum eine Stadt Sachsen-Anhalts erwachte derart geschunden aus dem städtebaulichen Koma der DDR-Jahre und keine andere hat derartig wagemutig mit den Möglichkeiten eines Neubeginns experimentiert wie Aschersleben. Als Durchfahrtsort an mehreren Bundesstraßen gelegen, hatte Aschersleben kaum einen Ruf zu verlieren – dafür aber viele Einwohner. Von 34.000 Einwohnern im Jahr 1989 wanderten bis 2010 jährlich durchschnittlich 500 ab. Jede sechste Wohnung stand leer. Der täglich von fast 20.000 Autos befahrene Straßengürtel rings um die Altstadt war dreckig und laut. Wer durch Aschersleben fahren musste, dem blieb die Stadt wohl in Erinnerung als diejenige, in der man entlang öder Straßenzüge oftmals im Stau stand. Baulücken klafften zwischen trostlosen Fassaden. Von Baukultur war da nicht viel zu sehen.
Vor den Architekten und Ingenieuren stand in Aschersleben, wie auch in vielen anderen ostdeutschen Städten, eine Aufgabe, die sie an keiner Universität oder Hochschule gelehrt bekommen haben: der plan- und qualitätsvolle Rückbau einer Stadt. Dafür gab es keinen Masterplan und keinen Algorithmus. Sehr schnell wurde aber erkannt, dass sich hier eine geschichtliche Chance bietet, für die man eigentlich sehr dankbar sein muss.
Nach dem Motto „Von außen nach innen – Konzentration auf den Kern“ wurden in Aschersleben über 1.200 Wohneinheiten abgerissen, vor allem im Plattenbaugebiet. Paradoxerweise wurde das letzte vor der Wende errichtete Plattenbaugebiet, durchaus keine schlechte Bausubstanz, als erstes komplett wieder abgerissen, einschließlich Kindertagesstätte und Schule. Eine unorthodoxe Entscheidung, die sehr weh tat und heiß umstritten war, sich aber aus heutiger Sicht für die Entwicklung der Stadt als notwendig und richtig erwiesen hat. Aber auch die marode Bausubstanz am Rande der Stadt sollte zugunsten des Stadtkerns weichen.
Aschersleben gilt heute als Prototyp einer Stadt, die ihren Schrumpfungsprozess planvoll gestaltet hat und auch noch weiter gestaltet. Die gewonnenen Freiräume im Straßenabschnitt „Hinter dem Zoll“ wurden zu Kunsträumen. Hybrid-walls aus haushohen Stahlrahmen, bespannt mit 60 m² großen Bildern, füllen nun die Baulücken der Ortsdurchfahrt. So entstand weltweit die erste DRIVE THRU GALLERY, eine Durchfahrtsgalerie mit wechselnden Ausstellungen, die immerhin nun täglich fast 20.000 Besucher – oder besser – Befahrer verbuchen kann. Immerhin 400.000 Euro wurden in dieses Projekt der IBA 2010 investiert.
Doch nicht nur die Ortsdurchfahrt wurde intensiv umgestaltet. Die trotz flächenhafter Abbrüche vor der Wende umfangreich erhaltene historische Bausubstanz in der Altstadt wurde behutsam und konstant saniert, und Brachflächen wurden neu bebaut. 1991 wurde ein 66 ha großes Sanierungsgebiet für die südliche Altstadt festgelegt. Mit „Konzentration auf den Kern“ gewann Aschersleben Schritt für Schritt wieder an Lebensqualität. Dafür wurden insgesamt 44,6 Mio. Euro Fördermittel aus dem Programm „Städtebaulicher Denkmalschutz“ und „Stadtsanierung“ genutzt.
Die südliche Altstadt, ein nach der Wende aufgrund von Investitionsstau fast verlassener und vielerorts baufälliger Stadtteil, wurde durch die Versorgungsträger zunächst infrastrukturell und nachfolgend baulich innerhalb der letzten 15 Jahre derart aufgewertet, dass sie inzwischen zum bevorzugten Wohngebiet geworden ist, vor 15 Jahren unvorstellbar.
Mit einer Investitionssumme von 16,2 Mio. Euro war das „Bildungszentrum Bestehornpark“ das größte Hochbauprojekt nach der Wende. Die 1861 von Heinrich Christian Bestehorn gegründete und bald florierende Papierwarenfabrik wurde 1945 enteignet. In dem volkseigenen Betrieb waren 1.000 Menschen beschäftigt. Übrig blieb ein heruntergewirtschafteter Industriekoloss mit rußgeschwärzten Mauern und blinden Fenstern. Ab 2007 wurde die riesige Industrieruine im Auftrag der Stadt saniert, von einer Papierfabrik zu einer Denkfabrik. Und nicht nur das Gebäude wurde saniert und durch einen Riegelbau ergänzt, es wurden auch neue Plätze, Sichtachsen und Wege geschaffen. Diese im Kontext zum Bauwerk stehende städtebauliche Maßnahme ist für Aschersleben mindestens genauso wichtig wie das Bauwerk an sich.
Überzeugen Sie sich anlässlich des DAI Tages vom 23–25.9.2016 selbst vom Wandel einer Stadt, die dank des Fleißes und Ideenreichtums von Architekten und Ingenieuren die baukulturelle Wende bisher mit viel Dynamik gemeistert hat. Ich kann Ihnen versichern, es lohnt sich, Aschersleben gesehen zu haben, nicht nur aus dem Auto.
Herzlichst Ihr
Stefan Wohlrab
1. Vorsitzender AIV Aschersleben-Staßfurt