Stadtbaukunst im 19. Jahrhundert

Der Hildesheimer Stadtbaumeister Gustav Schwartz
(in: BAUKULTUR 5_2011, S. 18-20)

Gustav Schwartz (1847-1910) war von 1876 bis zu seinem Tod Stadtbaumeister und Stadtbaurat in Hildesheim. Gemeinsam mit Oberbürgermeister Gustav Struckmann (1837-1919) hat er über 34 Jahre das Bild der Stadt bis heute nachhaltig geprägt. Zahlreiche in dieser Zeit entstandene Bauten stehen gegenwärtig noch, wie z.B. die Baugewerkschule am Hohnsen, das 7-Brüder-Haus Schmitjan in der Feldstraße, sein eigenes Haus in der Gartenstraße sowie etliche Schulen.

Kozok_Haus_SchwartzEigenes Wohnhaus von Gustav Schwartz in der Gartenstraße in Hildesheim, erbaut 1880-1896

Die Anfänge der kommunalen Stadtplanung und Bauverwaltung
1876 wurde ein Stadtbauamt mit einem hauptamtlich tätigen Stadtbaumeister eingerichtet und Gustav Schwartz an die Spitze gewählt. Ein Stadtbauamt im heutigen Sinne bestand damals noch nicht. Die städtischen Baugeschäfte wurden durch einen Architekten wahrgenommen, der zugleich Privatarchitekt war und seine Geschäftsstelle in seiner Privatwohnung hatte.
Mit den neuen Aufgaben, die der Stadtverwaltung zufielen, setzte eine umfassende Bautätigkeit ein. Die Schwerpunkte lagen im Straßenbau und im Bau öffentlicher Gebäude. Doch die Bauordnung von 1843 war völlig überaltert. Es gab weder Bestimmungen über die Anlegung von Straßen noch über die Festlegung von Fluchtlinien. Die fehlenden Gesetze hatten den beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt Hildesheim außerordentlich erschwert. 1876 bot ein erstes Ortstatut die rechtliche Grundlage, um neue Straßen anzulegen und die alten erforderlichenfalls zu verändern.
Über Jahrhunderte hindurch war Hildesheim auf engstem Raum bebaut worden. Dies hatte nicht nur zu den typischen dichtbebauten innerstädtischen Strukturen geführt, sondern auch zu Platzproblemen, feuerpolizeilichen Sicherheitsfragen und hygienischen Unzulänglichkeiten.

Eine neue Stadt entsteht
Außerhalb der abgebrochenen Stadtbefestigungen entwickelten sich in nur kurzer Zeit zahlreiche neue Stadtviertel. Mit dem Eisenbahnanschluss 1846, insbesondere nach Verlegung und Neubau des Hauptbahnhofs 1884, war eine Ausweitung der Stadt nach Norden verbunden, es bildete sich in der Bernwardstraße ein neues Geschäftsviertel und in der Folge hinter dem Bahnhof die Nordstadt. Östlich der Altstadt entstand um die Steingrube ein Wohnviertel für gehobene Ansprüche, die Oststadt. 1898 erfolgte die Erschließung der bis dahin als Gartenland genutzten Venedig mit Villen und Stadthäusern im Südwesten der Stadt und nach 1901 die Villenkolonie am Galgenberg im Südosten.
Die rasante Veränderung des Stadtbildes, verursacht durch den Abbruch von Wehrbauten, die Ansiedlung industrieller Großbetriebe und die fortschreitende Bebauung, wurde von vielen als anonym und seelenlos empfunden. Es entstanden innerhalb von nur wenigen Jahren zahlreiche innerstädtische Neubauten, kilometerlange Straßenzüge und großangelegte Stadtviertel. Das gewohnte, stets vertraute Bild der Stadt wich einem neuen fremdartigen.
Privatbauten wurden nicht ausschließlich von Architekten, sondern zumeist von Maurer- oder Zimmermeistern errichtet, sie waren vielfach zugleich die Unternehmer und vermieteten oder verkauften die Häuser nach ihrer Fertigstellung bzw. bauten im Auftrag von gutsituierten Bürgern. In Hildesheim entstanden auf diese Weise die Mehrfamilienhäuser der Linkstraße (1895–1900) oder der Hornemannstraße (nach 1900).
Die Stadtmodernisierung, die Verbreiterung von Straßen als Folge des steigenden Verkehrsaufkommens und die Verbesserung der Wohnverhältnisse forderten auch in Hildesheim zunehmend bauliche Opfer. Besonders die Fachwerkhäuser im Stadtzentrum waren von diesen tiefgreifenden Maßnahmen betroffen.

Kozok_Villa_WindthorstArchitektur der Hannoverschen Schule: Die Villa Windthorst auf dem Moritzberg, erbaut 1882-1886 von Adolph Barth

Hannoversche Schule
Gustav Schwartz hatte an der Polytechnischen Hochschule Hannover seine Ausbildung erhalten. Dort war er Schüler des Architekten Conrad Wilhelm Hase (1818-1902). Hase hatte die „Hannoversche Schule“ ins Leben gerufen. Dieser Architekturstil, eine vorwiegend in rotem Backstein ausgeführte Variante der Neugotik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, orientierte sich an der norddeutschen Backsteingotik. Typisch sind Ziegelrohbaufassaden mit Backsteinziersetzungen, glasierte Ziegel als Zierelemente und Verzicht auf Außenputz. Es handelte sich um eine Wiederbelebung des steinsichtig belassenen Backsteinbaus, der seit dem Mittelalter in Vergessenheit geraten war.
Aus den Formen und Konstruktionen der mittelalterlichen Gotik eine zeitgemäße Gegenwartsarchitektur schöpferisch zu entwickeln, war das besondere Anliegen von Schwartz. Die Architektur sollte sich universell auf die aktuellen Bauaufgaben anwenden lassen, wie Alltagsarchitektur und Fabriken, Speicherbauten, Bahnhöfe und Schulen.
Durch neue Produktionsmethoden, die Erfindung der Strangpresse 1854 und des Ringofens 1856, konnte die Ziegelproduktion enorm gesteigert werden. Die Oberfläche der mittlerweile maschinell hergestellten Ziegel war zudem glatter als die der handgestrichenen. Glasierte Formsteine und polychrome Ziegel trugen zur Farbigkeit und Leuchtkraft der Fassaden und damit zu einem malerischen Erscheinungsbild bei. Der Ziegelbau gewann dadurch erheblich an Attraktivität. Somit führten auch die verbesserten technischen Voraussetzungen zu einer ungeahnten Popularität und immensen Verbreitung der Hannoverschen Schule im norddeutschen Raum, insbesondere in Hildesheim.
Als 1900 das Kaiserpaar zur Einweihung des Denkmals Wilhelms I. nach Hildesheim kam, bewunderte es auch das von Schwartz umgestaltete Rathaus. Bei dieser Gelegenheit erhielt Schwartz den damals noch seltenen Titel „Königlicher Baurat“.

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