Es gibt noch manches zu entdecken

100 Jahre Fagus-Werk in Alfeld an der Leine
(in: BAUKULTUR 5_2011, S. 33-34)

Das Fagus-Werk in Alfeld feiert 2011 sein 100-jähriges Jubiläum. Mitte des Jahres beschloss die UNESCO die Aufnahme der Industrieanlage in das Weltkulturerbe. Die Freude darüber mag – neben dem Lohn für diejenigen, die durch ihre Forschungen und Begründungsberichte die kurze und bündige Entscheidung ermöglichten – ein Gradmesser dafür sein, dass sich das gelegentlich ins Abseits geredete kulturelle Bewusstsein und die Bereitschaft zur Verantwortung bei den Denkmaleigentümern eben doch immer wieder finden.

Thumm_Fagus_Erster_Bauabschnitt_7Das Fagus-Werk in Alfeld feiert 2011 sein 100-jähriges Jubiläum

Geburtsstunde der Moderne
Die lange Wartezeit und das lange Bemühen um die Aufnahme als Weltkulturerbe mögen darin begründet liegen, dass manche den Ruhm, Erstling der Moderne in der Industriearchitektur zu sein, für das Fagus-Werk nicht in Gänze teilen. Und in der Tat täte man der AEG-Turbinenhalle von 1909 in Berlin, während derer Planung und Erbauung Walter Gropius im Büro von Peter Behrens arbeitete, und dem lange vorher errichteten Fabrikationsgebäude für die von Margarete Steiff begründete Stofftierproduktion in Giengen an der Brenz Unrecht, wenn man nicht auf sie verwiese. War die Turbinenhalle der Beginn einer monumentalen Ästhetisierung der Industriearchitektur und Hinwendung zu neuen technischen Möglichkeiten, so prägten gut belichtete Arbeitsplätze für die Herstellung der Steiff-Spielzeugtiere hinter langen, einfach gerasterten Fensterbändern die bis dahin in einem meist hilflosen Historismus erstickende Architektur der Fabriken und Industriehallen. Doch bleiben diese einzelne Aspekte. Wer mag, kann noch früher ansetzen, etwa bei den Architekten des Klassizismus, besonders den Revolutionsarchitekten in Frankreich, die den Weg ebneten für die geometrischen und abstrakten Grundformen der Architektur, wie Jean-Nicolas-Louis Durand (1760-1834), der zudem die Vorteile einer in Raster und Module aufgelösten Architektur erkannte, oder Henri Labrouste (1801-1875), einem Pionier der Glas-Eisen-Architektur, der schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte: „Ich verlange von den Künsten das Verständnis dafür, dass in der Architektur die Form stets der Funktion entsprechen muss, für die sie bestimmt ist, (...) und dass mit der Konstruktion selbst eine Schönheit erreicht werden muss, die zugleich vernünftig und eindrucksvoll ist“, lange bevor Louis Sullivan (1856-1924) sein „form follows function“ in die Welt setzte. Wo also anfangen und aufhören, wenn wir nach der Geburtsstunde der Moderne suchen? Und es gibt nicht nur eine Moderne in der Architektur, auch die Arbeitswelt, das Unternehmertum und das Soziale haben ein Entwicklung und wurden „modern“.

Thumm_Fensterbnder_4Fensterbänder belichten die Arbeitsplätze und geben den Blick nach draußen frei

Neues Denken
Vor diesem Hintergrund kommt man nicht umhin, im Fagus-Werk erstmals einen Brennpunkt zu sehen, in dem sich sämtliche Aspekte eines neuen Denkens sammelten. Es sind nicht nur die komplexen Arbeits- und Produktionsabläufe, bis das frische Holz der Buchen (lat. fagus) aus dem Holzlager über Trockenkammern in die Verarbeitung zu Schuhleisten in die Registratur, die Lager und den Versand samt dessen kaufmännischer Verwaltung gelangt. Es sind auch nicht nur die gesundheitlichen und sozialen Aspekte ausreichend belichteter und belüfteter Arbeitsplätze, ausreichender Aktionsradien und Bewegungsfreiheit zur Vermeidung von Arbeitsunfällen, schließlich wird überall mit Messern, Stanzen, Pressen und Schneidewerkzeugen gearbeitet. Es geht auch um die soziale und psychische Befindlichkeit, Sicht nach draußen zu haben, Sichtkontakt zum Nachbarn, auch zu dem im nächsten und zu dem im übernächsten Raum. Es sind heute die Standards der modernen Arbeitspsychologie, die im Fagus-Werk bereits verwirklicht wurden.

Thumm_Fagus_Werkstattgebude_9Die Fassaden des Werkstattgebäudes zeichnen sich durch sorgfältigste Materialwahl aus

Neue Befunde
Und längst ist noch nicht alles bekannt, was Walter Gropius und – wer oft vergessen wird – Adolf Meyer, damals Mitarbeiter im ersten, 1910 gegründeten Büro in Potsdam-Neubabelsberg, geschaffen haben, nach welchen Maximen, nach welchen gestalterischen Grundsätzen sie im Großen wie im Detail gearbeitet haben. So wurde nach einer sehr präzisen Bestandsaufnahme des im Inneren besonders gestalteten Südtreppenhauses am Haupteingang im letzten Jahr eine bemerkenswerte Nähe zu Proportionstheorien der Renaissance festgestellt. Auch manches Detail der Material- und Baustoffwahl, wie z.B. die Struktur und Farbe der Mörtel und Fugen, die Art der Pflasterung oder Installationstechnik, hat sich bisher der Aufmerksamkeit entzogen.

Und der Architekt?
Walter Gropius, geboren 1883, hatte sein in München begonnenes Studium ohne Abschluss abgebrochen und wurde auf einer Spanienreise von dem Mäzen Karl-Ernst Osthaus aus Hagen entdeckt und zu Peter Behrens vermittelt, bei dem sich später noch die anderen Giganten der Moderne, Le Corbusier und Mies van der Rohe, trafen. Kaum hat er sein eigenes Büro gegründet, nimmt er als 28-Jähriger gleich den großen Auftrag des Industriellen Karl Benscheidt an. Über ein solches Selbstvertrauen kann man lange nachdenken, in jedem Falle kann es vorbildlich sein – und nicht nur für Architekten. 1919 wird er der erste Leiter des „Staatlichen Bauhauses in Weimar“ und 1925 der erste Direktor des Bauhauses in Dessau, der letzten verbindlichen Bauschule. Bemerkenswert ist, dass sie bis in die Gegenwart hineinwirkt und nach wie vor große und größte Teile unserer gestalterischen Wahrnehmungen prägt.

„Die zwischen 1911-1918 für eine Schuhleisten- und Stanzmesserfabrik nach einheitlichem Plan von Walter Gropius errichteten Gebäude gelten als bahnbrechendes Konzept moderner Industriearchitektur. Fast die gesamten Wände des Fabrikations- und Verwaltungsgebäudes sind in Glasflächen aufgelöst; sie treten vor die Flucht der schmalen ziegelverblendeten Stahlstützen und übergreifen vorhangartig Geschossdecken und Gebäude-
ecken. In der Trennung von tragendem Gerüst und schließender Fläche wird der ehemals feste Baukörper durchsichtig, das Fenster zur Wand.“ (Dehio, 1977.)

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