Um die medizinische Versorgung und die Handlungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung in Zeiten der Corona-Pandemie aufrechterhalten zu können, bedarf es einer schnellen, effizienten und rechtssicheren Beschaffung. Das Vergaberecht hält hierfür sowohl im Bereich oberhalb als auch unterhalb der EU-Schwellenwerte Möglichkeiten bereit, Vergabeverfahren zu beschleunigen und zu vereinfachen.
1. Möglichkeiten für beschleunigte Vergaben oberhalb der EU-Schwellenwerte
Öffentliche Aufträge oberhalb der Grenze der EU-Schwellenwerte können bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gem. § 14 Abs. 4 VgV durchgeführt werden. Bei diesem Verfahren kann der öffentliche Auftraggeber direkt mit potenziellen Auftragnehmern verhandeln. Da hierdurch der grundsätzlich geforderte Wettbewerb stark beschränkt wird, ist die Anwendung an strenge Voraussetzungen geknüpft.
Nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kann das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb angewandt werden, wenn:
- ein unvorhergesehenes Ereignis vorliegt und
- es äußerst dringliche und zwingende Gründe gibt, die die Einhaltung der in den übrigen Verfahren vorgesehenen Mindestfristen unmöglich machen und
- zwischen dem unvorhergesehenen Ereignis und der Unmöglichkeit, die Fristen der übrigen Verfahrensarten einzuhalten, ein kausaler Zusammenhang besteht.
Das BMWi stellt in seinem Rundschreiben vom 19.03.2020 fest, dass diese Voraussetzungen in der gegenwärtigen Situation vorliegen können, soweit die Vergaben der Eindämmung und kurzfristigen Bewältigung der Corona-Krise und/oder der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dienen. Dies sei unter anderem für die Beschaffung von Heil- und Hilfsmitteln (z.B. Verbandsmaterialien, Desinfektionsmittel, medizinischen Geräten) aber auch für mobile IT-Geräte zur Errichtung von Homeoffice-Arbeitsplätzen anzunehmen.
Auch bei der Vergabe von Planungs- und Bauleistungen kann der Anwendungsbereich für äußerst dringliche Beschaffungen gem. § 3 a Abs. 3 Nr. 4 EU VOB/A grundsätzlich eröffnet sein. Das BMI zählt in seinem Rundschreiben vom 27.03.2020 beispielhaft folgende hierfür in Betracht kommende Baumaßnahmen auf:
- Kurzfristige Schaffung zusätzlicher Kapazitäten im Krankenhausbereich
- Umbauten und Ausstattung zur Erhöhung der Anzahl von Videokonferenzräumen
- Einbau von Trennwänden zur Separierung mehrfach belegter Büros
Die direkte Ansprache nur eines vorab ausgewählten Wirtschaftsteilnehmers im Wege des Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb sei jedoch, so die Europäische Kommission in ihrer Mitteilung vom 01.04.2020, nur dann möglich, wenn nur ein Unternehmen in der Lage sein wird, den Auftrag unter den durch die zwingende Dringlichkeit auferlegten technischen und zeitlichen Zwängen zu erfüllen.
Zudem stellt die Europäische Kommission klar, dass auch in der Corona-Krise im Einzelfall geprüft werden muss, ob die Einhaltung der Fristen für die übrigen Verfahrensarten tatsächlich nicht möglich ist. Dies gilt umso mehr, da für die übrigen Verfahren unter Umständen auch die Möglichkeit der Fristverkürzung in Anspruch genommen werden kann (vgl. §§ 15 Abs. 3, 16 Abs. 3 VgV).
Grundsätzlich gibt es auch für das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gesetzliche Fristvorgaben. Auch hier besteht die Möglichkeit der Fristverkürzung in Fällen begründeter Dringlichkeit – für den Eingang der Erstangebote ist eine Verkürzung auf 10 Tage möglich. Im Fall des § 17 Abs. 7 VgV besteht zudem die Möglichkeit, im Einvernehmen mit allen Bewerbern eine noch kürzere Frist (auch 0 Tage können zulässig sein) festzulegen.
2. Möglichkeiten für beschleunigte Vergaben unterhalb der EU-Schwellenwerte
Auch im Unterschwellenbereich hat der öffentliche Auftraggeber das Recht, Vergabeverfahren mit kurzen Fristen durchzuführen.
Es besteht die Möglichkeit, eine Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb gem. § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO durchzuführen, sofern die UVgO in dem jeweiligen Bundesland in Kraft gesetzt wurde. Bei der Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb fordert der Auftraggeber grundsätzlich mindestens drei Unternehmen unmittelbar zur Angebotsabgabe auf. Nach § 12 Abs. 3 i.V.m. § 8 Abs. 4 Nr. 9 UVgO besteht auch hier die Möglichkeit, nur ein Unternehmen zur Abgabe eines Angebots aufzufordern. Auch diese Vorschrift ist, so das BMWi in seinen Erläuterungen zur UVgO vom 07.02.2017, eng auszulegen. Für den Auftrag dürfe daher nur ein spezifisches Unternehmen in Frage kommen.
Zudem haben diverse Bundesländer im Rahmen der Eindämmung der Corona-Pandemie zur Vereinfachung der Vergabe unterhalb der EU-Schwellenwerte entsprechende Verwaltungsvorschriften erlassen, beziehungsweise Rundschreiben veröffentlicht.
3. Vertragsänderungen gemäß § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB
Das BMWi weist zudem auf die Möglichkeit hin, bereits bestehende Verträge im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben des § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB zur Bewältigung kurzfristiger Beschaffungsbedarfe zu verlängern oder wertmäßig auszuweiten, ohne ein neues Vergabeverfahren durchzuführen.
Über § 47 Abs. 1 UVgO gilt diese Vorschrift auch für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte. Voraussetzung für die Vertragsänderung nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB ist dabei unter anderem, dass sich der Gesamtcharakter des Auftrags aufgrund der Vertragsänderung nicht verändert. Eine Änderung des Gesamtcharakters liegt beispielsweise dann nicht vor, wenn lediglich die Liefermenge der vereinbarten Leistung erhöht wird oder auch, wenn ein bestehender Liefervertrag über bestimmte medizinische Hilfsmittel um weitere Gegenstände ergänzt wird, die dem gleichen oder einem ähnlichen Zweck dienen. Das Recht, einen bestehenden Vertrag an den durch die Corona-Pandemie veränderten Beschaffungsdarf anzupassen, dürfte daher die einfachste Möglichkeit sein, kurzfristigen Beschaffungsbedarf vergaberechtskonform zu decken.
4. Dokumentation
Bei den vorgenannten Möglichkeiten zur kurzfristigen Deckung von Beschaffungsbedarf ist jedoch zu beachten, dass die Dokumentationspflichten des öffentlichen Auftraggebers nach wie vor bestehen. Entscheidet sich der öffentliche Auftraggeber zu einer Verkürzung der in den Vergabevorschriften genannten Fristen, sind die Dokumentationspflichten sogar erhöht. Der öffentliche Auftraggeber hat nachzuweisen, dass er äußerst dringenden Beschaffungsbedarf hat und dieser dazu führt, dass die üblicherweise einzuhaltenden Fristen nicht eingehalten werden können. Unterlässt der öffentliche Auftraggeber die sorgfältige Dokumentation, macht er sich gegebenenfalls gegenüber anderen potentiellen Auftragnehmern schadensersatzpflichtig oder könnte verpflichtet sein, empfangene Fördermittel zurückzuzahlen.
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