EuGH hält Mindest- und Höchstsatzregelungen der HOAI für europarechtswidrig

Welche Auswirkungen hat dies auf die Praxis? Gastbeitrag von Dr. Patrick Gasch

Die Entscheidung hat sich seit langer Zeit angekündigt. Spätestens seit der Generalanwalt Anfang dieses Jahres beantragt hatte, der EuGH solle die Unvereinbarkeit der Mindest- und Höchstsatzregelungen der HOAI mit dem Europarecht feststellen, war absehbar, dass die Tage der HOAI, so wie wir sie alle kennen, gezählt sind.

Jetzt hat der EuGH in dem Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland am 04.07.2019 (Az: Rs. C-377/17) entschieden, dass die verbindlichen Vorgaben von Mindest- und Höchstsatzrahmen in der HOAI nicht mit der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt („Dienstleistungsrichtlinie“) zu vereinbaren sind. Das Urteil des EuGH ist nicht anfechtbar. Das zwingende Preisrecht der HOAI in der heute bekannten Form steht somit vor dem Aus.

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Entscheidung und gibt erste Antworten auf die zentralen Fragen.

1. Was hat der EuGH entschieden?

Der EuGH hat entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. G und Art. 3 der Dienstleistungsrichtlinie verstoßen hat, indem sie in der HOAI verbindliche Honorarrahmen für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren innerhalb der Mindest- und Höchstsätze vorgibt.

Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass der Marktzugang von Architekten aus dem europäischen Ausland erschwert wird, wenn diese nicht in einem freien Preiswettbewerb günstigere Preise anbieten können als es die HOAI zulässt. Ein solcher erschwerter Marktzugang wäre nur zulässig, wenn er sich durch besondere Umstände rechtfertigen ließe. Die von Seiten der Bundesrepublik vorgebrachten Rechtfertigungsgründe, wie etwa die Qualitätssicherung der Planungsleistungen, der Verbraucherschutz, die Bausicherheit, die Erhaltung der Baukultur sowie das Ziel des ökologischen Bauens hat der EuGH durchaus gewürdigt, im Ergebnis aber als nicht ausreichend angesehen.

Der EuGH begründet seine Entscheidung zu den Mindestsätzen im Wesentlichen mit dem Umstand, dass in Deutschland Planungsleistungen auch von Dienstleistern erbracht werden können, die nicht ihre entsprechende fachliche Eignung nachgewiesen haben müssen. Dies ließe im Hinblick auf das erklärte Ziel der HOAI, mit den Mindestsätzen eine hohe Qualität der Planungsleistungen zu erhalten, eine Inkohärenz der deutschen Regelung erkennen. Die Sicherung eines Mindesthonorars über die Beibehaltung der Mindestsätze für die Vergütung von Leistungen, für deren Erbringung keine Min-destqualität erforderlich ist, könne die Qualität der Leistungen selbst nicht sichern.

Die Beibehaltung der Höchstsätze trage zwar zum Verbraucherschutz bei, indem Transparenz hinsichtlich der von den Dienstleistern angebotenen Honorare geschaffen wird und diese daran gehindert werden, überhöhte Vergütungen zu verlangen. Dieses Ziel könne aber mit anderen, weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden. Es fehle daher an der Verhältnismäßigkeit der zwingenden Höchstsatzvorgabe, so der EuGH.

Im Ergebnis ist der EuGH damit der Auffassung, dass diese Regelungen der HOAI die Anforderungen der Dienstleistungsrichtlinie an das Einführen von Höchst- und Mindestsätzen nicht erfüllen.

2. Was bedeutet die Entscheidung für die HOAI?

Die HOAI als solche hat weiterhin Bestand. Das Urteil hat lediglich Auswirkungen auf das insbesondere in § 7 HOAI verankerte zwingende Preisrecht, das Honorarvereinbarungen nur im Rahmen der Mindest- und Höchstsätze zulässt. Diesbezüglich muss die Bundesrepublik Deutschland die HOAI an die Vorgaben aus der Entscheidung anpassen. Dies kann bedeuten, dass das zwingende Preisrecht vollständig abgeschafft wird.
Die übrigen Regelungen der HOAI sind von der Entscheidung des EuGH grundsätzlich nicht betroffen. Daher können etwa die in den einzelnen Leistungsbildern beschriebenen Grundleistungen und besonderen Leistungen weiterhin die Basis für vertragliche Vereinbarungen bilden. Sie bleiben auch geschuldet, soweit entsprechende Vereinbarungen bereits getroffen wurden.

Weiter besteht nach wie vor die Möglichkeit, eine vertragliche Vergütungsvereinbarung auf die Honorarparameter der HOAI zu stützen. Eine solche Vereinbarung basiert nicht auf dem verbindlichen Preisrecht, sondern auf einer freien Entscheidung der Parteien. Zudem spricht einiges dafür, dass auch die Formvorschrift gemäß § 7 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 HOAI weiter Bestand haben wird. Dies bedeutet, dass einem Architekten auch weiterhin nur der Mindestsatz zusteht, wenn er die Vergütungsvereinbarung bei Auftragserteilung nicht schriftlich trifft. In diesem Fall wird nicht der Marktzugang von Architekten aus dem europäischen Ausland behindert, sondern allein ein Formverstoß sanktioniert.

3. Wie wirkt sich die Entscheidung auf Mindestsatzklagen aus?

Soweit die Parteien ein am Mindestsatz orientiertes Honorar konkret vereinbart haben, ist diese Vereinbarung, wie bereits erwähnt, nach wie vor wirksam und ein entsprechendes Honorar erfolgreich einklagbar.
Problematischer ist jedoch die sehr praxisrelevante Frage, wie es sich im Hinblick auf sogenannte „Aufstockungsansprüche“ verhält. Hiermit sind Fälle gemeint, in denen die Parteien einen unterhalb des Mindestsatzes liegenden Preis vertraglich vereinbart haben und der Architekt von seinem Auftraggeber das bis zum Mindestsatz bestehende Delta einfordert.

Grundsätzlich haben Richtlinien nach ständiger Rechtsprechung keine unmittelbare Auswirkung auf das Verhältnis privater Personen untereinander, solange sie nicht in nationales Recht umgesetzt wurden. Das Mindest- und Höchstsatzsystem der HOAI gilt daher grundsätzlich zunächst weiter fort. Es müsste demnach für die Änderung der Rechtslage zwischen den Vertragspartnern die Reaktion des Verordnungsgebers abgewartet werden. Allerdings wird auch vertreten, dass gerade der hier in Frage stehende Art. 15 der Dienstleistungsrichtlinie so konkret gefasst ist, dass das Verbot von zwingendem Preisrecht unmittelbar auch zwischen Privaten gilt, mit der Folge, dass die sogenannten Mindestsatzklagen seit dem 04.07.2019 (auch laufende Verfahren) keine Aussicht auf Erfolg mehr hätten. Diese Auffassung steht nicht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des EuGH, der eine mittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien zwischen Privaten grundsätzlich ablehnt.

Gleichwohl deuten die ersten Reaktionen der nationalen Gerichte daraufhin, dass sie dazu neigen, das Urteil des EuGH als Anlass zu nehmen, eine Berufung auf die Mindestsätze der HOAI abzulehnen. So hat etwa das OLG Celle am 17.07.2019 (Az. 14 U 188/18) eine Mindestsatzklage zumindest auch unter Berufung auf das Urteil des EuGH abgewiesen. Zudem hat das Landgericht Berlin infolge der Entscheidung des EuGH bereits darauf hingewiesen, dass es eine Berufung auf die Mindestsätze für ausgeschlossen hält, wenn die Parteien die HOAI nicht ausdrücklich vereinbart haben. Eine rechtskräftige Entscheidung liegt aber bislang noch nicht vor.

Der EuGH hat hingegen bislang noch nicht über die Frage entschieden, ob sich ein privater Auftraggeber gegenüber dem Architekten darauf berufen kann, dass er den Mindestsatz aufgrund der Unvereinbarkeit mit Unionsrecht nicht schulde. Dies müsste in einem gesonderten Vorabentscheidungsverfahren geklärt werden. Eine solche klärende Entscheidung steht noch aus. Eine weitere interessante Frage ist, ob sich die öffentliche Hand gegenüber einem Architekten darauf berufen kann, dass die Mindestsatzregelungen der HOAI unionsrechtswidrig sind. Hiergegen spricht, dass sich ein Mitgliedstaat grundsätzlich nicht zu seinen Gunsten auf eine nicht ordnungsgemäß umgesetzte Richtlinie berufen darf (keine sog. umgekehrt vertikale Wirkung). Der Mitgliedstaat soll auf diese Weise für seine Untätigkeit sanktioniert werden. Letztlich muss abgewartet werden, wie sich die Gerichte in nächster Zeit hierzu positionieren. Die Erfolgschancen von Aufstockungsklagen sind durch die Entscheidung des EuGH jedenfalls nicht gestiegen. Soweit im Einzelfall nichts entgegensteht (z.B. drohende Verjährung), sollte mit der Einlegung etwaiger Aufstockungsklagen abgewartet werden bis in der Rechtsprechung eine klare Linie absehbar ist.

4. Wie wirkt sich die Entscheidung auf Vergabeverfahren aus?

Die Mitgliedstaaten sind gehalten, den Verstoß gegen die Richtlinie unmittelbar zu beachten und die gegen diese verstoßenden Normen nicht mehr anzuwenden. Demnach können Angebote in Vergabeverfahren der öffentlichen Hand nicht mehr mit der Begründung ausgeschlossen werden, sie verstießen gegen das Gebot der Mindestsätze. Die Ministerien haben bereits begonnen, die jeweils zuständigen Stellen über diese Folge zu informieren (z.B. Rundschreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 11.07.2019).

Nach wie vor besteht jedoch die Möglichkeit, die Honorarparameter der HOAI als Berechnungsmaßstab für das Angebot vorzugeben. Ebenso kann im Vergabeverfahren gemäß § 58 Abs. 2 VgV ein Festpreis vorgegeben und die Auswahl der Bieter allein von ihrer Qualität abhängig gemacht werden. Die Norm geht auf die unionsrechtliche Vorgabe in Art. 67 Abs. 2 UAbs. 2 RL 2014/24/EU zurück. Dementsprechend bestehen keine europarechtlichen Bedenken.

Ausblick

Das Ende des verbindlichen Preisrechtes ist eine Chance für neue Vergütungsmodelle, die individuell auf den Vertrag und dessen Leistungssoll zugeschnitten werden. Bislang kamen die essentiellen Gedanken zur Definition der Leistung und der dafür vereinbarten Vergütung im Vertrauen auf die HOAI häufig zu kurz. Dies hat dann zu Auseinandersetzungen geführt. Dies ließe sich vermeiden, wenn sich die Parteien eines Architekten- oder Ingenieurvertrages zukünftig deutlich mehr Gedanken über die Vertragsgestaltung bezüglich der zu erbringenden Leistung und ihrer Vergütung machen. Für die Qualität von Architekten- und Ingenieurverträgen liegt hierin eine echte Chance.

Dr. Patrick Gasch ist Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht und Partner der ZIRNGIBL Rechtsanwälte Partnerschaft mbB. Der Beitrag ist auch erschienen auf Baukultur.plus

 

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